Ansprache zum Volkstrauertag 2024

Mir erscheint es sehr wichtig und dringlich, offen über die Fragen von Krieg und Frieden ins Gespräch zu kommen. Meine Ansprache zum Volkstrauertag, die ich am Sonntag, 17.11.2024, vor den Ehrenmälern auf dem Moischter Friedhof gehalten habe, will ein Anstoß dazu sein. Feedback gerne per Mail: frank.miege@ekkw.de

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich begrüße Sie herzlich zu unserem Gedenken am diesjährigen Volkstrauertag.
Wir gedenken der Opfer der beiden Weltkriege und wir denken an die Menschen, die heute Opfer sind von Krieg und Gewalt.
Wir tun dies in bedrückend unfriedlichen Zeiten.

1000 Tagen dauert der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, die Zerstörung von Gaza schreitet fort, die Bombardierung des Libanon. Wir wissen um die Angst von Menschen in Israel vor Raketen, um die verschleppten Geiseln. Wir blicken erschrocken auf ein Anwachsen des Antisemitismus in Westeuropa, bei uns in Deutschland.
Das Vertrauen in Demokratie scheint abzunehmen hier und weltweit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit scheint zuzunehmen
Nach der kürzlich veröffentlichten Jugendstudie ist die Angst vor Krieg jetzt die größte Angst der Jugendlichen. 81% der Jugendlichen in Deutschland haben Angst vor Krieg.

Politiker und Leitmedien stellen uns darauf ein, dass die Ordnungen der Nachkriegszeit Vergangenheit sind und manche reden unverblümt davon, dass wir uns in einer Vorkriegszeit befinden.
Einen Mentalitätswandel soll es geben hin zur Kriegstüchtigkeit nicht nur des Militärs, sondern auch in der ganzen Bevölkerung, in den Schulen, sagte der Umfragen zufolge beliebteste deutsche Politiker und Verteidigungsminister.

Kriegstüchtigkeit – in dieser Wortverbindung wird Krieg zu einer Tugend.
Und das rutscht einem erfahrenen Politiker, dessen Berufswerkzeug die Sprache ist, ja nicht einfach so raus.
Die EU-Kommissionspräsidentin hat von den ukrainischen Helden gesprochen, die unsere Freiheit und unsere Werte verteidigen.
Aber am Krieg führen ist nichts Heldenhaftes. Krieg bringt Zerstörung, Tod und Leid mit sich. Krieg führen ist unmenschlich, beschädigt die Menschlichkeit aller, die beteiligt und betroffen sind, sei es mehr als Täter, sei es mehr als Opfer oder nur als Opfer.
Gerät das in Vergessenheit, jetzt da auf die 100 zugeht, wer den zweiten Weltkrieg als Jugendlicher miterlebte, wer damals Kind war – wie meine Eltern – auf die 90. Sollen wir heute wieder glauben, dass es gut sein kann, Krieg zu führen oder Kriegsführung zu unterstützen?

Das Leitbild der evangelischen und katholischen Friedensethik ist: gerechter Friede. Bewusst formuliert als Gegenbegriff zu gerechtem Krieg.
Denn: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.
In der unfriedlichen Welt, in der wir leben, kann aber der Einsatz rechtserhaltender und rechtssetzender Gewalt legitim sein, zur Selbstverteidigung, und um Schlimmeres zu verhindern oder wenigstens einzugrenzen. Schon der Pfarrer, Dietrich Bonhoeffer, der als persönlicher Gefangener von Adolf Hitler hingerichtet wurde, hat es so gesehen: Prinzipieller Pazifismus darf anderen oder gar Gesellschaften nicht als absolutes Prinzip aufgezwungen oder verordnet werden. Es kann das geringere Übel sein, dem Rad in die Speichen zu fallen.

Es lässt sich aus christlicher Sicht also nicht prinzipiell sagen, ob in unserer komplexen politischen Lage Zugeständnisse an Russland das Bessere wären, um zu einem Waffenstillstand zu kommen, oder weitere und verstärkte Waffenlieferungen an die Ukraine, um zu einem Sieg zu kommen oder zumindest in eine Verhandlungsposition der Stärke. Die Antworten darauf sind politisch und hängen davon ab, wie wir die militärische Situation einschätzen, davon, welche Interessen wir den Kriegsparteien unterstellen, welche Bedrohungen wir befürchten und welche Szenarien eines Nachkriegszustands wir für realistisch und wünschenswert erachten. Dabei sollte uns bewusst sein: Im Informationskrieg will nicht nur Russland seine Sicht verbreiten. Ebenso tun das auch der Westen, die Nato. Neutral, objektiv informiert sind wir nicht.
Dennoch: Vielleicht ist es das geringere Übel, weiter und stärkere Waffen zu liefern, aufzurüsten, abzuschrecken.

Aber anscheinend reicht das nicht. Die zunehmende Militarisierung muss unzweideutig gut sein, das Vorbereiten auf Kriegsführung alternativlos richtig. Denn sonst lassen sich die Opfer, die dafür gebracht werden sollen, an Menschen, an Ressourcen, an Geld, nicht so einfach rechtfertigen.
Sonst lassen sich die Menschen nicht so leicht mitnehmen auf den Weg von Krieg, Gewalt und Zerstörung.
Das muss schon für das Gute sein, heldenhaft. Es ist heute nicht die christliche Sicht, die der Wirklichkeit absolute Prinzipien überstülpen will. Die christliche Sicht steht realistisch gerade gegen alle selbstgerechten Vereinfachungen, mit denen eine Seite bei politischen Konflikten unzweideutige Güte und unbezweifelbare Wahrheit für sich beansprucht.
Dietrich Bonhoeffer hat betont, dass „zur Struktur verantwortlichen Lebens die Bereitschaft zur Schuldübernahme gehört“. Weil auch ich als verantwortlich handelnder Mensch und als ethisch urteilender Mensch begrenzt bin in meinem Erkennen der Situationen und weil ich verstrickt bin in einer zweideutigen Welt, in der nicht alles von Güte und Menschenfreundlichkeit bestimmt ist und auch ich nicht.

Zunehmende Militarisierung als geringeres Übel? Das reicht anscheinend nicht. Alternativen dazu sollen nicht einmal denkbar sein. Zum Mentalitätswandel in Richtung Kriegstüchtigkeit scheint zu gehören, kritische Anfragen bezüglich einer immer stärkeren Militarisierung als nicht diskutabel zu diffamieren und als naiv, putinfreundlich, usw.
Da werden nicht nur Putin als Hitler und die Russen, als das Böse dämonisiert, sondern Menschen die mit Friedenstauben demonstrieren als gefallene Engel aus der Hölle bezeichnet vom Bundeskanzler. Um die Farbe weiß ging es in einem Interview mit dem Papst, in dem er vom Mut zur weißen Fahne sprach, dafür warb, Verhandlungen anzustreben, nicht sich bedingungslos zu unterwerfen. Aber so wurde seine Aussage bewusst missdeutet von denen, die jede Diskussion über Verhandlungen im Keim ersticken wollen.

Volkstrauertag – ein Tag des Gedenkens.
Womöglich ein Tag des Trauerns, nicht nur über Vergangenes, sondern auch darüber, wie wir selbst in Schuld und Verfeindung, in Leid und Gewalt einbezogen sind?
In vielem weitestgehend machtlos und hilflos, aber doch darin denkend, fühlend oder handelnd, wo wir Mitmachen oder nicht Mitmachen, andere als die Bösen zu sehen, von unserer Seite als der guten und richtigen mit Verachtung auf diejenigen blicken, die auf der anderen Seite sind oder gar auf keiner.

Ob es noch möglich ist und gewollt sein kann, ins Gespräch zu kommen, respektvoll, interessiert an den Überlegungen des und der anderen, frei davon, nur die eigene Meinung als überhaupt denkbar und diskutabel einzuschätzen?
Worin sehen wir warum das relativ Bessere?

Am Ehrenmal gedenken wir der Opfer von Krieg und Gewalt. Wir lesen die Namen von Menschen, die als Soldaten gestorben sind, von Menschen, die hier als Söhne und Brüder, als Nachbarn, zum Teil als Ehemänner und Väter gelebt haben. Auf einer richtigen Seite der Geschichte waren unsere Vorfahren nicht. Ob sie mit Begeisterung für eine gute Sache in den Krieg gezogen sind? Oder, weil sie mussten, weil sie ihre Lieben schützen, verteidigen wollten?
Trauern, darüber, was Krieg Menschen antut, was Menschen einander im Krieg antun und auch sich selbst, Mitfühlen, mit den Opfern, mit denen, die Täter geworden sind, das ist nicht so leicht wie in Gute und Böse zu unterteilen. Aber es ist heilsam, trägt dazu bei, dass wir friedensfähiger werden.
Die eigene Schuldlosigkeit und Selbst-Gerechtigkeit lässt sich in unserer unübersichtlichen und aus den Fugen geratenen Welt nur um den Preis gewaltiger Vereinfachungen aufrecht erhalten und oft genug auch um den Preis, einander Gewalt anzutun im Denken und Sprechen, Fühlen und Handeln.

Der Anspruch, dass wir Anteil an einer „Achse des Guten“ haben, erschien dem Großteil der Welt spätestens angesichts der von den USA gedeckten Unmenschlichkeiten in Gaza als Doppelmoral. Nach der Wahl in den USA klingt dieser Anspruch nun auch im Westen hohl.
Ein Präsident, der weitestgehend moralfrei wirkt, aber irgendwie lieber Deals zu machen als Krieg zu führen scheint.
Ich würde keine Voraussage wagen, was das kommende Jahr bringen wird, weniger Krieg oder weitere Eskalation.
Aber ich weigere mich hinzunehmen, dass es auf zunehmende Eskalation und Militarisierung hinauslaufen muss. Und das soll naiv sein? Wie viel friedlicher könnte eine Welt aussehen, in der ein guter Teil der 1.700 Milliarden Euro, die jährlich für Waffen und Militär ausgegeben werden, in gutes Zusammenleben investiert würde, in die Stärkung von Friedensfähigkeit? Und wie würden Europa oder die Welt aussehen, wenn es zum Einsatz von Atomwaffen käme?
Halten wir weiter Ausschau nach Wegen der Verständigung, zu mehr Gerechtigkeit und Frieden.

Miteinander reden – einander zuhören und respektieren, was gesagt wird, statt es in irgendeine Schublade einzuordnen. Wirklich interessiert sein an der Sichtweise und an den Gefühlen von denen, die es anders sehen, die anderes sehen und fühlen. Gemeinsam danach suchen, wie Entscheidungen getroffen werden können, die keinem Gewalt antun.
Wir stehen vielem eher ohnmächtig gegenüber. Aber es liegt an uns innezuhalten und nicht mitzumachen bei der Verteufelung von anderen in der Welt und hier bei uns.
Mir macht es Mut, wie gut es hier in Moischt gelungen ist, ohne Rechthaberei und Beschimpfungen über das Flüchtlingsheim zu reden. Frieden beginnt hier bei uns.

Und ich halte an der Hoffnung fest, dass immer wieder neu Kräfte zum Frieden wirksam werden – mit der Hilfe Gottes.